Ein paar Wochen lang musste sich die Popkultur hinten anstellen. Während der Fußball-WM hatte ich die außerordentliche Freude, in unserer wundervollen Sportredaktion mitarbeiten zu dürfen. Zwar ging es mir da zwischendurch “scho au” (Jogi-Sprech) mal um (Fußball-)Kultur, vor allem aber um Fußball und seine Begleitphänomene, also um Fans, Tintenfische, Tröten und sonstiges “Halala“.
Nun ist die WM vorbei, und wenn man als Ersatzdroge für den Fußball-Schwerkonsum keine belang- und folgenlosen Testspiele im Sportfernsehen schauen will, landet man dann doch wieder bei der Tour de France. Tatsächlich finde ich, dass es an derart heißen Sommertagen, wie wir sie derzeit erleben, kaum ein schöneres Sommervergnügen gibt, als vom Sofa aus dabei zuzusehen, wie sich Männer in bunten Trikots die Berge hinaufquälen. Natürlich denkt man immer mal wieder daran, dass diese Männer wohl hier und da etwas mehr zu sich nehmen als Müsliriegel und Wasser. Dennoch – dieses Wissen im Hinterkopf, ist Radsport ein interessantes Sommervergnügen (hier bloggt der geschätzte Kollege Volker Boch kenntnisreich über die Tour).
Der Reiz einer möglichst in Gänze angeschauten Tour-Etappe liegt für uns Fernsehzuschauer im Meditativen. Sie dauert ein paar Stunden, manchmal passiert gar nichts, manchmal läuft alles auf einen entscheidenden Rennabschnitt von wenigen Kilometern oder (bei Sprintankünften) sogar nur Metern zu. Ganz anders also als beim Fußball, bei dem die ganze Dramatik des Sports auf 90 Minuten kondensiert wird, in denen in jeder Sekunde etwas Unfassbares, Faszinierendes oder auch Niederträchtiges geschehen kann. Fußballgucken verbraucht also Energie, bei der Tour kann man sie sich zurückholen.
Zumal sich die Fernsehsender immer noch sehr viel Mühe damit geben, uns die Vorzüge der französischen Landschaft nahe zu bringen. Immer wieder fliegen Kamerahubschrauber die bewaldeten Hänge ab, die die Sportler gerade bezwingen. Sattgrün sehen sie aus, die Bergflanken, gar nicht bedrohlich. Oben werden sie dann kahler und kühler. Dann wieder rollt das Peloton durch ein unfassbar schönes Tal, vielleicht über eine alte Brücke über einem strahlend blauen Flüsschen. Hinein geht es ins Dörfchen St.-Jean-de-Sowieso, und man notiert sich rasch den Namen dieses romantischen Weilers und gibt ihn ins Internet ein, auf der Suche nach günstigen Übernachtungsmöglichkeiten in der Nähe. Man müsste mal Urlaub in Frankreich macht – das denke ich beim Tourgucken wesentlich häufiger als “Man müsste mal wieder Fahrradfahren”. Und das ist durchaus ein Problem.
Eine Tour-de-France-Übertragung bietet zudem manchmal, wenn auch immer seltener, hinreißende Moderationsmomente. Dann nämlich, wenn sich die Reporter, um der Langeweile des zugegebenermaßen oft gleichförmigen Dahinrollens zu entgehen, die besten Weichkäsesorten der jeweiligen Region vorhalten. Oder wenn es um die kolossalen Weine geht, die gleich neben der Strecke wachsen. Oder wenn sie das rasch angelesene Reiseführerwissen so überzeugend darbieten, dass man den Eindruck gewinnt, sie hätten schon viele Jahre lang genau dort ihre Sommerfrische verbracht. Die Tour de France ist mehr als die berühmte rollende Apotheke, sie ist auch die beste Tourismuswerbung, die Frankreich sich wünschen könnte. Ich bin für so etwas empfänglich.
A propos Sportkultur. Fußball und Radsport haben etwas gemein: Über beide Sportarten sind in den vergangenen Jahren hervorragende Filmdokumentationen herausgekommen. Beim Fußball nenne ich mal stellvertretend den “Sommermärchen“-Film von Sönke Wortmann über die WM 2006, beim Radsport geht es mir um den Film “Höllentour” von Pepe Danquart (Kinotrailer unten als Video angehängt). Der Regisseur begleitete das Team Telekom bei der Tour 2003, im Mittelpunkt stehen Erik Zabel und Rolf Aldag, zwei inzwischen gefallene deutsche Pedal-Helden. Dennoch: Der Film mit seinen epischen Bildern, seiner starken Dramaturgie, seinem Blick für das Innenleben einer Tour bleibt faszinierend.
Und das liegt auch an der Musik. Deutschlands Star-Jazz-Trompeter Till Brönner hat sie geschrieben und aufgenommen. Und er hat Musik geschaffen, die mustergültig nicht nur das Rennen, sondern auch ganz Frankreich einfängt. Nicht ohne Grund werden seine Motive immer wieder in Sendungen über die Tour verwendet – ganz so, wie Yann Tiersens Soundtrack zu “Die fabelhafte Welt der Amélie” inzwischen in jeder Reportage über irgendwelche Altmöbel-Restauratoren aus Frankreich erklingt.
Das hat die “Höllentour” mit dem “Sommermärchen” gemeinsam. Beim Fußballfilm klimpert im Hintergrund immer mal wieder eine Melodie von Marcel Barsotti, die inzwischen sehr gerne von TV-Sportjournalisten zur Untermalung ihrer aktuellen Beiträge verwendet wird. Dieses Stück zum Beispiel habe ich während der WM mehrfach gehört, wenn etwa deutsche Nationalspieler beim lockeren Training gezeigt werden. Und: Sie können ja mal drauf achten – dieses Stück wird oft in Spielnachberichten verwendet, wenn es besonders dramatisch geworden ist.
Bei Tour habe ich oft diese Melodie von Till Brönner aus der “Höllentour” im Ohr – immer dann, wenn das Feld wieder in ein wunderschönes Dörfchen rollt, das sich für die Tour geschmückt hat. Am Straßenrand sitzen die alten Männer in Klappstühlen und stützen sich vorn auf ihren Gehstock. Im Hintergrund steht eine große Tafel aus grobem Holz, vielleicht mit Weichkäse und Brot darauf, dazu einfache Weinflaschen ohne Etiketten. Alles wartet gespannt aufs Feld, das dann rasant durchrast. Das ist Tour de France. Das Stück heißt “Savoir Vivre”.