Vermutlich trennen uns noch Monate, höchstens ein, zwei Jahre vom automatischen Journalismus. Dann übernehmen Maschinen einen Teil der Berichterstattung. Und sie wird durchaus lesens- und sehenswert sein. Ansätze dazu hat die Fußball-WM 2014 gezeigt.
Experimente mit den entsprechenden Mechanismen haben während dieser Weltmeisterschaft verdeutlicht, wie einfach sich solche automatisierten Inhalte inzwischen erstellen lassen.
Die Zutaten im Jahr 2014:
- Man nehme einen klar abgegrenzten Zeitraum wie etwa “sechs Stunden vor dem Brasilien-Spiel bis vier Stunden danach”
- … reduziere die Quellen auf Tweets, Instagram-Bilder und den öffentlich zugänglichen Teil von Facebook
- … finde drei oder vier Markierungen, die dankenswerterweise von den Urhebern bereitgestellt werden, zum Beispiel #BRAGER, #GERBRA, #wm2014; sowie von Geofeedia verortete Beiträge aus einem Areal von der Größe des aktuellen Fußballstadions plus fünf Kilometer Umkreis und
- … verringere die Zahl der berücksichtigen Beiträge auf “mindestens 5 Favs und mindestens 5 Retweets” beziehungsweise “mindestens 10 Likes”.
Das Letztere ist das Entscheidende. Relevanz entsteht erst, wenn x Leute den Beitrag weiterverbreiten oder favorisieren. So entsteht aus der weltweiten Flut an Beiträgen schon mal ein überschaubarer Mix aus leicht gefilterten Texten, die ein Weltereignis einigermaßen beschreiben. Aber es geht mit den gewissen Zutaten im Algorithmus noch besser:
- Man vergrößere die Zahl der berücksichtigten Beiträge bei Einsetzen der allgemein üblichen Twitter-Müdigkeit in der 1. Halbzeit der Verlängerung auf “3 Favs und 3 Retweets” (das bekommt ein Computer selbstverständlich hin)
- … verkleinere die Zahl der berücksichtigten Beiträge bei Einsetzen der allgemein üblichen Twitter-Hysterie nach Vorliegen eines Ereignisses namens “Tor”, “Pause || Klo” oder “Oliver Pocher twittert” um ein Drittel (okay, in diesem Bullet Point ist Folklore Inside™ – Experten sprechen von einer Blacklist)
- … verkleinere selbstverständlich die Zahl der Treffer weiter auf “nur deutsche Beiträge”
- … erlaube davon “nur Beiträge von Leuten, die schon länger als ein halbes Jahr dabei sind”
- … erweitere die Zahl der Treffer auf englische Beiträge, sofern die Quelle a) verified (also überprüft) ist und b) mehr als 100.000 Follower und einen der Hashtags aufweist
- … erweitere die Zahl der Treffer außerdem auf die zuvor eingestellten Teilnehmer einer Twitter-Liste beziehungsweise einer Facebook-Gruppe, der zum Beispiel seriöse Quellen wie @sportschau, @Bschweinsteiger und der Herr Khadira auf Facebook angehören und
- … mache das einmal für Beiträge mit enthaltenen Videos und Fotos und ein weiteres Mal mit größerer Schwelle für Nur-Text-Veröffentlichungen.
Ein Weltereignis halbwegs vollständig abgebildet
So gut wie jede dieser Anforderungen lässt sich mittlerweile programmieren. Facebook ist da etwas störrisch und nicht immer frei zugänglich. Aber Twitter und Instagram gehen schon mal, um ein Weltereignis halbwegs vollständig abzubilden: Ein Programmierer lächelt wahrscheinlich indigniert, wenn er das als Anforderung an eine Zusammenstellung von öffentlichen Beiträgen erhält. Noch ist es allerdings niemandem gelungen, diese gezielt und vorzeigbar zusammenzuführen bei einem etablierten Medium. Aber das scheint nur eine Frage der Zeit. Mit händischer Abfrage und ein paar Hilfsmitteln gelingt das schon jetzt.
Und voilà: Fertig ist der Beitrag, der nahezu live entstand und bei der Rhein-Zeitung in der halbautomatischen Erstellung in der Folge 12.000 Abrufe brachte. Das ist für uns als Regionalzeitung so viel wie ein gut laufender Onliner-Aufmacher in herkömmlicher Darstellung. Bei anderen Begegnungen wie dem Endspiel und den früheren Spielen der deutschen Mannschaft gab es nicht ganz so viele Zugriffe, aber dieses Format des Live-Storify hängt eben auch von der Wucht der Ereignisse und der Dichte zusammenführenswerter Details ab. Und natürlich gelingt das bei Ereignissen mit weniger Aufmerksamkeit nicht, die gesellschaftlich eigentlich höheres Interesse verdienten. Jedoch deuten die vielfachen Tweets von Politikern schon darauf hin, das auch dafür eine neue öffentliche Diskussionskultur entsteht.
Etwas weiter gedacht entsteht zumindest im Sport Neues: Mit weiterem Gehirnschmalz in der Vorbereitung gelingt nicht nur dieser live aktualisierte Bericht in der Reihenfolge der Ereignisse, sondern in der Theorie auch ein zweiter Bericht, der den Zeitstrahl auflöst und nur die “wichtigsten” Ereignisse in weiterer gewichteter Form benennt.
Facebook macht es vor
In rudimentärer Weise erleben wir diesen Automatik-Journalismus schon heute an anderer Stelle: bei der Zusammenstellung von Beiträgen in Facebook. In Deutschland nennen sie das “Hauptmeldungen”; nur wenn man danach sucht, kann man auf “Neueste Meldungen” umschalten. Nur dann erhält man stumpf alle Beiträge aus seinen Facebook-Beziehungen. Die Hauptmeldungen aber werden nach einem unbekannten Algorithmus von Facebook zusammengestellt. Keine Ahnung, ob das noch Journalismus ist. Aber es ist erfolgreich.
Die bei uns von Hand getestete weiterführende Form in dem genannten Fußball-Beispiel ist mit wenigen Programmen zumindest halbautomatisch hergestellt. Dafür reicht das Programm Tweetdeck. Darin stellt man ein paar Spalten mit den gewünschten Hashtags und Vorgaben für die zu berücksichtigende Resonanz in Form von Favs und Retweets zusammen. Über den Dienst IFThisThanThat (IFTTT) erstelle man sich eine Regel, um eigene Favorisierungen in ein Storify zu übertragen. Binnen Sekunden lassen sich so die wichtigsten Beiträge aus dem sozialen Web zusammenstellen – bequem auf dem Handy, zusammengeführt auf einer neuen Seite bei Storify. Die fügt man dann per Einbettcode auf der eigenen Webseite ein – fertig.
Vieles im Web ist Unterhaltung mit Spuren von Journalismus
Ob und wieviel Journalismus das noch ist, steht auf einem anderem Blatt. Und ob das noch dem Grundverständnis eines geschätzten althergebrachten Journalismus entspricht, der ja auch eine gesellschaftliche Aufgabe hatte, sei dahingestellt. Da müssen Sie jetzt durch: Im Web ist vieles Unterhaltung, das Spuren von Journalismus enthalten kann. Und manches ist Fälschung, falsch, ironisches Gold, das dann auch ungewollt in den Bericht einfließen könnte. Aber wie wir schon bei der Handhabe von Spam gelernt haben, lässt sich auch das weitgehend in den Griff bekommen, und sei es durch die Aufnahme vom geschätzten Postillon auf eine Blacklist.
Was bleibt, ist massenhaft Interesse für ausgesuchte, kuratierte Beiträge in einer neuen Medienwelt, die zunächst auf platten Zugriffszahlen und den guten Ruf der Weiterverbreitenden basiert. Daraus ereignisbasiert einen schnell anpassbaren Algorithmus zu erfinden, ist nicht mehr nur die Aufgabe von Programmierern. Die Medienentwicklung erfordert es, dass wir Journalisten alter Schule mit den Programmierern neuer Schule an einen Tisch zusammenrücken. Die Kriterien bleiben die alten: Relevanz ist etwas in der Art Persönliche Betroffenheit x Prominenz x (Aktualität plus Ist-anders-als-Gestern) hoch Überraschung. Schreiben Sie das auf!
Die Maschinen bei Facebook und Twitter lernen das gerade und machen es weitgehend unter sich mit den kleinen Newcomern Storify, Tame und Geofeedia aus, wie das geht. Facebook und Co. sind die eigentlichen Medienkonzerne im Jahr 2014, die diese WM der Selfies durchaus teamorientiert viel besser als etablierte Medien zu nutzen wussten: Das zunehmend beisteuernde Team für relevante Veröffentlichungen wird das Social Web und die Redaktion eine wachsende Schar von Programmierern mit journalistischen Wurzeln als Trainer.
Von Marcus Schwarze, Redakteur Rhein-Zeitung